Naturtalente gegen Arbeitstiere – wer sind die besseren Athleten?

Die ersten olympischen Spiele der Neuzeit fanden erstmals 1896  in Athen statt. In über 100 Jahren modernen Sports, haben sich viele außergewöhnliche Athleten in die Geschichtsbücher eingetragen. Namen wie Jim Thorpe und Jesse Owens sind auch Jahrzehnte nach ihren großen Erfolgen noch allgegenwärtig. Nicht nur als Namensgeber für Trophäen und Preise, sondern vor allem wenn  wieder einmal die größten Leichtathleten der Geschichte gesucht werden.

Erst vor kurzem bin ich wieder auf solch einen Vergleich gestoßen. Was mich dabei fasziniert ist, dass die meisten Athleten in eine von zwei Kategorien fallen: Naturtalent oder Arbeitstier. Dazu muss man sagen, dass die zwei Kategorien sich nicht ausschließen, sondern vielmehr die gegenseitigen Enden eines Spektrums darstellen. Meist überwiegen die Naturtalente in diesen Listen, denn allgemein wird Talent mehr bewundert, während Arbeitsmoral eher respektiert wird. Man vergleiche nur mal das Image von Usain Bolt und Robert Harting. Doch dazu später mehr.

Oly DecathlonZwei der Athleten, die selten auf der Liste fehlen sind Dan O’Brien und Roman Sebrle. Beide Olympiasieger und Weltmeister im Zehnkampf. Dennoch könnte ihr Athletentyp kaum verschiedener sein. Sie sind nahe an den jeweiligen Enden des Spektrums. Deshalb kann man an der Gegenüberstellung weiter unten gut erkennen, was die beiden Athletentypen ausmacht. Natürlich sind alle Bezeichnungen relativ für das Weltklasse Niveau, über das wir hier sprechen. Sebrle nicht als Talent zu bezeichnen ist genauso schwachsinnig wie O’Brien einen großen Trainingsumfang abzusprechen. Vergleicht man beide jedoch direkt und nicht mit der Normalbevölkerung erkennt man doch deutliche Unterschiede.

Das großartige am Zehnkampf ist, dass wir so viele Zahlen haben, die wir herrlich miteinander vergleichen können. An dieser Stelle auch noch ein großes Kompliment an die Macher der www.decathlon2000.com Seite, die seit Jahren all die Statistiken und Ergebnisse rund um den Mehrkampf sammeln!

prsBevor wir jedoch in die Tiefen der Zehnkampf Statistik einsteigen, sollte ich erstmal erklären, warum Sebrle für das Team Arbeitstiere startet und O’Brien für die Naturtalente. Dafür brauchen wir erstmal eine Definition der beiden Typen:

Naturtalente: 

Lotus F1 Team 2013 Launch PhotoshootNaturtalente zeichnen sich – dem Wort entsprechend – dadurch aus, dass sie natürlich, also von Beginn an gut sind. Naturtalente dominieren häufig im Jugendbereich und erreichen früh ein sehr hohes Leistungsniveau. Ihre Stärken sind natürliche Schnelligkeit und Sprungkraft (z.B. Jump and Reach). Ihr Körperbau ist meist Vorteilhaft mit niedrigem Körperfettanteil und hohen Muskelanteil. Die Naturtalente sind gemacht für Höchstleistungen. Sie sind das Formel 1 Auto unter den Sportlern.

Der große Nachteil der Naturtalente ist ihre verletzungsanfälligkeit. Genau wie das Formel 1 Auto, das bei dem kleinsten Fehler von der Strecke fliegt, oder bei einem Hauch von zu viel Gas der Motor explodiert, verletzt sich das Naturtalent schon bei kleinen Fehlbelastungen. Der Fehlerspielraum ist extrem klein.

Arbeitstiere:

shelby cobra

Arbeitstiere hingegen zeichnen sich vor allem durch hohe Trainingsverträglichkeit und hohe Trainingsumfänge aus. Im Jugendbereich sind sie häufig biologisch jünger und zeigen zunächst  vor allem koordinative Stärken. Dies sieht man daran, dass sie besonders stark in technischen Disziplinen und häufig Sprungdisziplinen sind. Ihr Körperbau ist kompakter als der der Naturtalente. Sie haben einen höheren Körperfettanteil und einen geringeren Muskelanteil. Das Arbeitstier ist nicht von Natur aus gebaut für Höchstleistungen. Allerdings können sie durch hohe Umfänge große Leistungssteigerungen erzielen. Im Vergleich zu den Naturtalenten brauchen die Arbeitstiere länger um ein hohes Leistungsniveau zu erreichen, dafür sind ihre Leistungen stabiler. Sie sind die 1960er Shelby Cobras unter den Sportlern.

Starker Motor, gute Grundlagen, aber alles nicht so perfide abgestimmt und optimiert wie beim Formel 1 Auto. Dadurch haben sie mehr Fehlerspielraum und sind nicht so verletzungsanfällig.

Wieder der Blick  zurück zum Zehnkampf

Zurück zu O’Brien, Sebrle und dem Zehnkampf. Der erste Tag ist wie gemacht für die Naturtalente. Speed und Power sind die wichtigsten Punktebringer. O’Brien hält den Weltrekord für die höchste Punktzahl basierend auf seinen Bestleistungen am ersten Tag (4997). Sebrles Punktzahl seiner Bestleistungen ist über 200 Punkte niedriger (4776). O’Briens Bestleistungen am ersten Tag gehören meiner Meinung nach zu den unglaublichsten Leitungen überhaupt (10.23s – 8.11m – 16.69m – 2.20m – 46.53s). Er war ein Ausnahmeathlet sonders gleichen, ein echtes Naturtalent.

Decathlete Dan O'Brien clears the bar in the decatDer zweite Tag des Zehnkampfs erfordert neben Athletik mehr technische Fähigkeiten. Aus diesem Grund sind die Arbeitstiere am zweiten Tag häufig vergleichsweise stärker als am ersten. Durch ihre höheren Trainingsumfänge haben sie mehr Konstanz und Sicherheit als die Naturtalente. O’Briens Punktzahl für den zweiten Tag basierend auf seinen Bestleistungen (4575) is gerade mal 18 Punkte unter dem Weltrekord von Dave Johnson. Doch während Sebrle und O’Brien am ersten Tag noch über 200 Punkte trennten, sind es am zweiten Tag nur noch 23 (4552). Dieses Phänomen ist typisch für Naturtalente und Arbeitstiere.

Während die Naturtalente ihre athletischen Vorteile am ersten Tag voll ausspielen können, machen es die technischen Disziplinen am zweiten Tag schwieriger sie umzusetzen. Generell haben die Naturtalente ein höheres Potential als die Arbeitstiere. Ihre Einzelbestleitungen sind besser.

Allerdings ist der Blick auf die Bestleistungen nur die halbe Wahrheit. Die Bestleistungen stehen für das Potential eines Athleten. Der Zehnkampf verlangt allerdings alle zehn Leistungen in zwei Tagen. Dadurch kommt ein neuer Faktor ins Spiel: Konstanz. Konstanz steht einfach gesagt dafür möglichst viele der theoretischen Punkte aufs Papier zu bringen. Dies ist eine große Stärke der Arbeitstiere. Auch hier sind Sebrle und O’Brien gute Beispiele.

O’Briens Einzelbestleistungen ergeben addiert die unglaubliche Punktzahl von 9572 Punkten. Das sind 222 Punkte mehr als Sebrle (9350). Man sollte meinen, dass O’Briens tatsächliche Bestleistung sicher über der von Sebrle liegt. Tatsächlich jedoch liegt Sebrle Bestleistung von 9026 Punkte -bis 2012 Weltrekord – um mehr als 100 Punkte höher als O’Briens Amerikanischer Rekord von 8891 Punkten. Sebrle hat zwar etwas niedrigere Ausgangswerte, kann diese dafür aber wesentlich konstanter abrufen.

Konstanz dokumentiert an Wettkampfresultaten

Wsebrle 2002er einen weiteren Beweis für Sebrles unglaubliche Konstanz braucht, schaue sich mal seine Saison 2002 an. Mehrere Zehnkämpfe in der gleichen Punkteregion ist an sich nicht so besonders. Das Niveau und die Art und Weise sind es schon. Gerade einmal 8 Athleten haben jemals die 8800 Punkte Barriere durchbrochen. Das zeigt das unglaubliche Niveau dieser Serie. Doch noch beeidruckender ist die Konstanz, wenn man die Disziplinen einzeln vergleicht. Die Schwankungen sind minimal: 2 cm im Hochsprung, 0,24s über 400m, 16cm im Weitsprung etc. Sebrle ist in der Lage sein Potential nahezu maximal auszuschöpfen und das über alle 3 Zehnkämpfe.

o brien 1994Zum Vergleich eine ähnliche Serie von O’Brien. Er bewegt sich ebenfall auf dem unglaublichen Niveau jenseits der 8800 Punkte. Und auch er hat weniger als 100 Punkte Schwankung. Die Schwankungen in  den einzelnen Disziplinen ist jedoch wesentlich größer: 1.2s über 400m, 0,37s über 110m Hürden, 32cm im Weitsprung etc. Hinzu kommt, dass die Leistungen in denen er konstant ist teils deutlich unter seiner Bestleistung liegen. Sein weitester Diskuswurf in dieser Serie ist 49,38m, seine Bestleistung ist 55,07m.

Ein weiterer Unterschied zwischen diesen Athletentypen ist die Karrieredauer und ihr Verlauf. O’Brien absolvierte 19 Zehnkämpfe über 8000 Punkten, Sebrle hatte unglaubliche 49! Zehnkämpfe über 8000 Punkten, mit Abstand die meisten in der Geschichte des Zehnkampfs. O’Briens Karriere war 8 Jahre lang, Sebrles Karriere endete nach 16 Jahren im Alter von 36 Jahren. Von 1997 bis 2007 absolvierte er mindestens 3 Zehnkämpfe über 8000 Punkten pro Jahr. Aufgrund dieser Belastungsverträglichkeit ist Sebrle so weit am Arbeitstierende des Spektrums.

Mens Decathlon Medal CeremonyNaturtalente tauchen überraschend bei internationalen Meisterschaften auf und kämpfen direkt um die Medaillen mit. Häufig verschwinden sie nach wenigen Jahren genauso überraschend wieder. Arbeitstiere sind meist mehrere Jahre bei internationalen Meisterschaften am Start bevor sie Medaillenchancen haben. Allerdings sind sie oft über mehrere Jahre Teil der Weltspitze. Für Einzeldisziplinen gibt es einen einfachen Leitsatz. Je technisch anspruchsvoller die Disziplin, desto mehr Arbeitstiere sind in der Weltspitze und umgekehrt. Man vergleiche nur die schnell wechselnden Felder über 100m und die etablierten Felder in den Wurfdisziplinen.

Nachdem wir diese die Ecken und Kanten der beiden Athletentypen nun kennen, kommen wir zurück zu Ausgangsfrage.

Wer sind die besseren Athleten?

Sebrle und O’Brien haben beide alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt (Sebrle Olympiasieger, Weltmeister, 2x Europameister – O’Brien Olympiasieger, 3x Weltmeister). An Titeln gemessen haben wir also ein unentschieden. O’Brien hat die besseren Einzelbestleistungen, Sebrle die bessere Zehnkampfbestleistung. Unterm Strich ist die Frage nach dem besten Athleten zu wage. Sebrle ist mit Sicherheit der bessere Zehnkämpfer. O’Brien ist der talentiertere, hat mehr Speed, mehr Power. Am Ende bleibt immer die Frage nach der Gewichtung der Fakten. Herausragende Athleten sind sie beide. Für mich ist Sebrle der größere Sportler, weil seinen Erfolg wesentlich weniger auf guten Genen beruht.

Doch auch wenn am Tag X die Dsiziplinen für alle die gleichen sind, könnte das Training für die beiden Typen nicht verschiedener sein. Die praktischen Unterschiede im Trainingsalltag schauen wir uns das nächste mal an. Wieso erreichen Arbeitstiere leicht ein Plateau? Was tun, wenn das Naturtalent sich ständig verletzt?

Hinterlasse einen Kommentar